Sur le pont

Christopher Pollmann

 

 

Nationalismus: die politische Gestalt des Kapitalismus

 

- Das Lehrbeispiel Griechenland -

 

 

Während meiner Reise durch Griechenland im Spätsommer 1994 habe ich auch die herzliche und lehrreiche Bekanntschaft von Jannis Milios gemacht. Nach einer Doktorarbeit in Maschinenbau an der Universität Athen promovierte er 1988 in Volkswirtschaft an der Universität Osnabrück. Inzwischen ist er Assoziierter Professor für Politische Ökonomie an der Technischen Universität Athen. Seit 13 Jahren gibt er die von ihm mitbegründete Zeitschrift "Thesen" heraus, ein Organ zur Kritik der Politischen Ökonomie. Lange habe ich mich mit ihm über die Geschichte und die heutige Lage Griechenlands unterhalten, inbesondere im Hinblick auf Nationalismus und Rassismus. Hier nun unser auf Deutsch geführtes und von mir überarbeitetes sowie durch einige Fub noten ergänztes Gespräch. Vorwegschicken möchte ich, daß wir uns aus Bequemlichkeit der geläufigen Begriffe wie "Griechenland", "die Griechen" usw. bedient haben. Das darf nicht darüber hinwegtäuschen, daß diese Begrifflichkeit und die mit ihr einhergehende Personalisierung für den Nationalismus eine unterbewußt höchst wirkungsvolle, eigenständige Rolle spielen - Nationalismus ist eben in erster Linie eine

sprachliche Konstruktion.

 

C. P. für Die Brücke: Ich bin nun seit einigen Wochen in Griechenland und habe mich mit allerlei Menschen über Nationalismus und Rassismus in diesem Land unterhalten. Ich habe dabei festgestellt, daß es ziemlich wenig kritische Stimmen gibt, was verschiedene Probleme und aktuelle Konflikte angeht, insbesondere das Verhältnis von Griechenland zur sich selbst als "Republik Mazedonien" nennenden Region um Skopje wie auch zu Albanien und zur Türkei. Vielleicht können Sie zur Einleitung mal Ihre eigenen Empfindungen und Positionen vorstellen.

 

Jannis Milios: Der Nationalismus ist nicht nur ein aktuelles, sondern auch ein altes Problem. Ich glaube, daß der Nationalismus ein konstitutives Element der bürgerlichen Ideologie schlechthin ist. Es ist ganz klar und normal, Nationalismus in einem kapitalistischen Land zu finden. Allerdings hat sich das Problem in Griechenland dahin zugespitzt, daß die Griechen meinen, eine ganz besondere und elegante Rasse zu sein, weil sie von den Altgriechen abstammten. Jedoch haben wir keinen Rassismus in offener Form. Die Leute sind rassistisch z. B. zu Zigeunern. Aber es gibt keinen aggressiven Rassismus gegen Menschen aus anderen Ländern, gegen Ausländer. Es gibt einen sagen wir kulturellen Rassismus im Verhältnis zu Menschen aus Ländern, die im Vergleich zu Griechenland sehr arm sind, und die deswegen bestimmte Verhaltensweisen haben, die bei armen Menschen anzutreffen sind.

 

Läßt sich das präzisieren, betrifft das z. B. auch Albanier?

 

Das geht in der Tat insbesondere gegen Albanier. Und zwar auch von Seiten der griechischen Arbeitnehmer, weil die Albanier mit ungefähr 10% der in Griechenland tätigen Arbeitnehmer sehr viel weniger Lohn bekommen, obwohl dieser Lohn doch erheblich höher sein dürfte als in Albanien, zumal wenn wir die hohe Arbeitslosigkeit dort berücksichtigen.

 

 

Verschwörungsideologie

 

Es gibt hier wie schon gesagt keinen aggressiven, sondern nur latenten Rassismus, und es existiert ein Nationalismus, der weit zurückreichende Wurzeln hat und eng mit der Geschichte Griechenlands verknüpft ist. Seit der sog. Kleinasienkatastrophe, d. h. nach der gescheiterten Invasion der Türkei durch Griechenland 1919-1922, als Griechenland ganz Kleinasien zu annektieren versuchte, herrscht hier eine politische Ideologie, wonach alle Länder und insbesondere die Großmächte sich gegen Griechenland verschworen hätten und das Land von seinen Rechten abschnitten. Deshalb also seien alle Länder gegen Griechenland z. B. in Sachen Mazedonien oder Türkei. Der griechische Nationalismus besteht also u. a. darin, immer Feinde und Verschwörungen gegen Griechenland zu entdecken.

Die Türkei und Griechenland sind seit mehreren Jahrhunderten miteinander verfeindet. Das moderne Griechenland wurde im 19. Jahrhundert im Rahmen eines revolutionären Prozesses gegründet, der sich gegen die osmanische Herrschaft richtete. Darauf folgten mehrere Kriege zwischen beiden Ländern. In [griechisch] Mazedonien und Thrazien wie auch im [westlichen] Epirus flammen seit der Gründerzeit immer mal wieder Grenzstreitigkeiten mit den Nachbarländern auf, namentlich wegen sich überlappender ethnischer Zugehörigkeiten der Bewohner. Griechischsprachige Bevölkerungsgruppen lebten und leben z. T. noch heute in den Nachbarländern, und umgekehrt gab und gibt es albanische, mazedonische, bulgarische und türkische Gemeinschaften in Griechenland. Deshalb bezeichnet "Mazedonien" im Französischen auch gemischtes Gemüse, Obstsalat oder Sammelsurium. Das bedeutet, alles ist miteinander verknüpft, so daß sich die einzelnen Teile kaum voneinander unterscheiden lassen.

 

Ja, und angesichts dieser Gemengelage bestand moderne griechische Politik offenbar darin, die katholisch-orthodoxe Religionszugehörigkeit und die griechische Nationalidentität zur Übereinstimmung zu bringen, indem nicht-orthodoxe Einwohnergruppen vertrieben oder hellenisiert wurden.

 

Das hat mit der Gründung des griechischen Staates zu tun. Vom ersten Tag seiner Existenz hat der kleine griechische Staat sich selbst als ein Reich verstanden, ein Reich, das den ganzen Balkan umfassen sollte. Er begriff sich nämlich als die Wiedergeburt erstens Altgriechenlands und zweitens, nach 1850, des Byzantinischen Reiches. Deshalb glaubten die Griechen sich im Recht, den Staat bis zu jenen historischen Grenzen des Griechentums auszuweiten, also die Landesgrenzen bis zur Donau vorzuschieben und sich auch Kleinasien einzuverleiben. Wie Nicos Poulantzas einmal gesagt hat: Der Nationalstaat ist die Historisierung eines Territoriums und die Territorialisierung einer Geschichte. Die Niederlage der Kleinasienexpedition 1922 hat dieses nationalistisch-imperiale Konzept zwar aus der Tagespolitik verdrängt, aber noch nicht aus dem Bewußtsein der Bevölkerung gelöst.

 

 

Homogenisierung der Bevölkerungen

 

Nun zu Mazedonien. Mazedonien war eine osmanische Verwaltungsregion und wurde durch die Balkankriege 1912-13 unter Bulgarien, Jugoslawien und Griechenland aufgeteilt. Durch Bevölkerungswechsel wurde der Prozentsatz der griechischsprachigen Einwohnerschaft im griechischen Teil Mazedoniens auf mehr als 90% angehoben ...

 

... wobei es sich zum großen Teil um Menschen handelte, die 1922 nach der Niederlage Griechenlands gegen die Türkei aus Kleinasien flohen.

 

Genau. Auf der anderen Seite wurden die Türken oder Muslime Mazedoniens [wie auch in geringerem Umfang Thraziens] in die Türkei vertrieben. Dadurch wurde Griechisch-Mazedonien fast völlig homogenisiert, also hellenisiert. Zwar hat es seitdem Grenzprobleme hauptsächlich mit Bulgarien und auch mit Jugoslawien gegeben. Doch existiert keine mazedonische Frage in dem Sinne, daß die Bevölkerung des bulgarischen Mazedoniens nicht bulgarisch oder die des griechischen Mazedoniens nicht im wesentlichen griechisch sei.

Was liegt nun heute an? Wenn ein Land sich Mazedonien nennt, versteht der griechische Nationalismus und eine Mehrheit der hiesigen Bevölkerung, daß dieses Land Ansprüche auf das griechische Mazedonien erhebt. Es handelt sich um eine reflexartige Reaktion, die auf der Unterstellung beruht, daß andere Länder nach griechischem Territorium gieren.

 

Das läuft im Falle Mazedoniens wohl so ab, daß zugegeben wird, daß die neue Republik Mazedonien für sich genommen Griechenland nicht bedrohe; die Gefahr rühre daher, daß dieses Land sich von der Türkei instrumentalisieren lasse.

 

Oder von Deutschland. Sicherlich gibt es in der Republik Mazedonien rechte, nationalistische Gruppen, die von einem Großmazedonien sprechen und Landkarten veröffentlichen, wo Thessaloniki [Hauptort des griechischen Mazedoniens] als Hauptstadt der großmazedonischen Republik erscheint. Das erklärt sich daraus, daß neue Staaten sehr nationalistisch sind, was ja auch für die anderen Staaten des ehemaligen Jugoslawiens gilt.

 

Sie brauchen den Konflikt und die Abgrenzung von ihren Nachbarn, um sich selbst eine nationale Identität verschaffen zu können, die bis dahin gar nicht vorhanden ist und auch nicht so ohne weiteres auf ethnischer oder religiöser Grundlage hergestellt werden kann.

 

Das ist korrekt. Interessant ist nun, daß der griechische Nationalismus in Sachen Mazedonien, obwohl ekelhaft wie jeder Nationalismus, keine aggressive Form angenommen hat. Die Hauptparole ist: "Hände weg von Mazedonien", als ob ausländische Mächte nach Griechisch-Mazedonien lungerten. Faschistische oder rechtsextreme Gruppen, die versucht haben, diese Parole gegen "slawische Untermenschen" zu erweitern, wurden auch von konservativen Gruppen und Demonstranten an den Rand gedrängt. Wenn Politiker sagen, "wir wollen von unseren Nachbarn nichts, nur gute Beziehungen, aber wir werden kämpfen, um nichts an expansionslüsterne Mächte zu verlieren", so entspricht das dem Bewußtsein der großen Mehrheit der Griechen.

 

Und wird dieser Konflikt tatsächlich von der Türkei instrumentalisiert, oder ist das auch nur ein Verschwörungsgespinst?

 

Ich glaube, das letztere ist richtig. Die Türkei hat versucht, ihren Einfluß auf den Balkan sowie auf die islamischen Länder und Regionen der ehemaligen Sowjetunion auszubauen. Dieser Versuch wurde mit dem Begriff einer "islamischen Achse" umschrieben. Er ist jedoch gescheitert, sowohl aus wirtschaftlichen und politischen wie auch aus militärischen Gründen. Denken wir an den Sieg Armeniens gegen Aserbeidschan im Konflikt um Berg-Karabach, an den Vormarsch der Serben gegen die muslimischen Kräfte in Bosnien, an die sich in der Tendenz anbahnenden guten Beziehungen zwischen den USA und Serbien - all diese Entwicklungen zeigen, daß die Türkei keinen starken Einfluß in der Region hat. Natürlich, "der Feind meines Feindes ist mein Freund", mag sich die türkische Regierung gegenüber der Republik Mazedonien und Griechenland sagen. Aber das bedeutet noch keine reale Drohung der Türkei gegen Griechisch-Mazedonien, die griechischen Inseln oder Griechenland allgemein.

 

 

Zwei Nationalismen schaukeln sich hoch

 

Wie schon gesagt, trägt die Auseinandersetzung zwischen zwei Gemeinschaften wesentlich zur Entstehung und Entwicklung des Nationalismus bei. Soweit ich gehört habe, ist das mazedonische Nationalgefühl durch die ablehnende griechische Reaktion auf die Benennung des neuen Staates gefördert worden, und umgekehrt hat der neue griechische Nationalismus einen Grund in der Schaffung der "Republik Mazedonien".

 

Das ist wahr, obwohl die Republik Mazedonien bereits im jugoslawischen Rahmen existierte und schon damals dort nationalistische Gruppen aktiv waren. Sie haben recht: Die griechische Politik hat den mazedonischen Nationalismus gefördert. Und Ähnliches hat sich in Griechenland abgespielt. Die Regierung hat die mazedonische Angelegenheit zunächst gar nicht sonderlich ernst genommen. Sie wollte einen Kompromiß mit dem neuen Nachbarstaat schließen. Aber sie mußte bemerken, daß die jeweilige Opposition, sei sie nun eine rechte oder eine linke gewesen, insbesondere zu Zeiten des Wahlkampfes immer viel nationalistischer war. Dadurch hat das Problem auch eine innenpolitische Dimension bekommen.

 

Das heißt, der Nationalismus wurde aus wahltaktischen Gründen gefördert und instrumentalisiert?

 

Jedenfalls hatten die Parteien und insbesondere die Regierungsparteien nicht den Mut, für einen Kompromiß mit der Republik Mazedonien einzutreten, weil sie die negative Reaktion der Wähler befürchteten. Und dies zu Recht, weil die Wähler lediglich den schon latent vorhandenen Nationalismus zu aktualisieren brauchten.

 

Meinen Sie darüberhinaus, daß der griechische Nationalismus, insbesondere gegenüber der Republik Mazedonien, auch aus dem Bedürfnis gespeist wird, von innergesellschaftlichen Konflikten abzulenken, also einen Sündenbock aufzubauen?

 

Es gibt diesen Aspekt. Doch das Thema Mazedonien spielt jetzt, nach zwei oder drei Jahren Konflikt, nicht mehr eine so große Rolle. Alle großen Parteien betreiben seit einiger Zeit eine Politik des Kompromisses. So hat sich der Ministerpräsident, Papandreou, am 10. September 1994 bei Eröffnung der Saloniki-Messe erstmals gegen den Nationalismus ausgesprochen. Wenn die Bewohner der Republik Mazedonien erklären, daß sie keine Gebietsansprüche auf das griechische Mazedonien erheben, und wenn entsprechende zweifelhafte Passagen in ihrer Verfassung geändert werden - was auch von der Europäischen Union vorgeschlagen worden ist, dann wird Griechenland wohl bereit sein, die Namensfrage beiseite zu legen. Um dem griechischen Nationalismus Genüge zu tun, würde die griechische Regierung die Republik Mazedonien zwar mit diesem Namen nicht als selbständigen Staat anerkennen, wohl aber auf der tatsächlichen Ebene wirtschaftliche und auch politische Beziehungen mit ihr aufnehmen. Dafür gibt es ganz handfeste Interessen. Die griechischen Waren- und Kapitalexporte in die ehemals realsozialistischen Balkanländer sind in der letzten Zeit sprunghaft angestiegen. Insbesondere das mächtige griechische Reederkapital schließt profitable Vereinbarungen mit jenen Staaten, kauft z. B. Teile ihrer Handelsflotte auf oder läßt deren Staatsangehörige zu niedrigen Löhnen auf griechischen Schiffen arbeiten. Zwar betreffen diese Beziehungen hauptsächlich größere Länder wie Bulgarien und Rumänien, aber auch mit der Republik Mazedonien gibt es lukrative Aussichten, zumal sie keinen eigenen Hafen hat.

 

(Fortsetzung in Die Brücke Nr. 84)

 

 

Sur le pont

Christopher Pollmann

 

 

Nationalismus: die politische Gestalt des Kapitalismus

 

- Das Lehrbeispiel Griechenland (Fortsetzung aus Nr. 83) -

 

 

Im September 1994 hat der Autor lange mit Jannis Milios, Professor für Politische Ökonomie an der TU Athen, über Nationalismus und Rassismus in Griechenland gesprochen. In Die Brücke Nr. 83 äußerte sich Jannis Milios allgemein zum Thema und ging insbesondere auf das Problem Mazedonien ein. Hier folgt nun die Fortsetzung des Gesprächs.

 

 

C. P. für Die Brücke: Auch im Verhältnis zu Albanien und zu den albanischen Arbeitskräften in Griechenland lassen sich gewisse rassistische wie auch nationalistische Verhaltensweisen beobachten.

 

Das Problem existiert seit langem, weil es in Südalbanien eine starke griechische Minderheit gibt. Griechenland versuchte mehrmals, diese Region zu annektieren. Der letzte Versuch war 1940, als die griechische Armee die italienische Armee besiegte und dann Südalbanien besetzte. Nach der Regierungsübernahme der Sozialistischen Partei PASOK 1981 wurde ein Vertrag der friedlichen Koexistenz und Zusammenarbeit mit Albanien abgeschlossen; das war der erste seit dem II. Weltkrieg, und es bestand damals eine Aussicht auf gute Beziehungen zwischen beiden Ländern. Einige extrem rechte, nationalistische Gruppen in Griechenland propagierten aber ständig die Annexion des sog. nördlichen Epirus und verstärkten ihre Anstrengungen nach der Auflösung der realsozialistischen Gesellschaften 1989. Gleichzeitig wanderten viele arme Menschen aus Albanien nach Griechenland ein. Es handelt sich zur Zeit um 300-400.000. Diese riesige Zahl bzw. die Drohung ihrer Ausweisung bedeutet für Griechenland eine ökonomische Waffe gegen Albanien.

In der letzten Zeit haben Maskierte albanische Soldaten getötet und andere verletzt sowie anti-albanische Propaganda getrieben. Dies wurde von der albanischen Regierung benutzt, um die griechische Minderheit verstärkt zu unterdrücken, insbesondere deren Partei "Omonia" (Eintracht) ohne Beweise strafrechtlich zu verfolgen. Wiederum treffen zwei Nationalismen aufeinander, die sich gegenseitig hochschaukeln.

 

[Ergänzung C. P.: In Reaktion auf die bei diesen Gerichtsverfahren ausgesprochenen empfindlichen Gefängnisstrafen hat die griechische Regierung im August-September 1994 70.000 Albanier unter rechtswidriger Gewaltanwendung und mehreren Todesfällen nach Albanien vertrieben, unterstützt von örtlichen Fernsehsendern, die die griechische Bevölkerung zur Denunziation von Albaniern aufriefen. Bereits Ende 1993 hatte die griechische Regierung 30.000 Albanier des Landes verwiesen, nachdem die albanische Regierung einen orthodoxen Priester wegen behaupteter anti-albanischer Propaganda verbannt hatte. Die griechische Minderheit in Südalbanien scheint im übrigen weniger nationalistisch zu sein als die griechische Gesellschaft. Andererseits haben die griechischen Behörden im März 1995 Mitglieder einer faschistischen Gruppe verhaftet, die bewaffnete Aktionen gegen den Staat Albanien vorbereiteten.]

 

 

Kontinuität von Alt- und Neugriechenland?

 

Ich habe bei meinen Begegnungen und Unterhaltungen häufig das Argument oder das Gefühl gehört, es bestünde ein enger Zusammenhang, eine Kontinuität zwischen dem klassischen Griechentum, insbesondere der altgriechischen Sprache, und den heutigen Verhältnissen in Griechenland. Mit dieser Kontinuität haben meine Gesprächspartner dann ihre nationale Identität und auch die griechischen Positionen beispielsweise in Sachen Mazedonien gerechtfertigt. Wie gehen Sie mit diesem Argument um?

 

Der behauptete Zusammenhang ist trivial, weil bei allen Völkern und Staaten die jeweils herrschende Ideologie behauptet, das Land und sein Volk besäßen eine Tradition von mehreren Jahrtausenden. Die Ägypter stammten vom alten Ägypten ab, die Schweizer von den Helveten, die Deutschen von den Germanen usw.

 

Was sind denn im Hinblick auf Griechenland die Elemente, die diese Kontinuität als konstruierte, also rein ideologische ausweisen?

 

Es gibt eine sprachliche Kontinuität, denn Neugriechisch ist dem Altgriechischen ähnlich. Trotzdem, wenn wir die Geschichte wissenschaftlich analysieren, können wir leicht feststellen, daß der neugriechische Nationalstaat ein Ergebnis der sozialen Beziehungen der kapitalistischen Epoche ist und nicht eine Fortsetzung der altgriechischen Gesellschaft. Im Mittelalter blieb außer der Sprache keine Spur von Altgriechenland. Zunächst hatten sich noch gewisse Widerstände gegen das Christentum geäußert. Diese Widerstände beruhten auf altgriechischen o. ä. Kulturzügen. Doch nach dem Jahre sagen wir 900 oder 1000 gab es im byzantinischen Reich keine Spur des alten Griechenlands mehr. Dasselbe gilt für mehrere, auf die osmanische Annexion des Balkans folgende Jahrhunderte: Zwar blieben die fraglichen Gemeinden orthodox, aber es existierte kein - griechisches - Volk, kein Bewußtsein, einer Gemeinschaft anzugehören, die den Altgriechen entstamme.

Die Berufung des griechischen Nationalismus' auf die Ideen des alten Griechentums verdreht im übrigen den Umstand, daß die altgriechische Kultur eine philosophische und ideologische Grundlage für ganz Europa und das westliche Denken ist und nicht nur für Griechenland.

 

Ja, wobei das dann von vielen Menschen als Zeichen für die Hochwertigkeit der alt- wie neugriechischen Kultur genommen wird.

 

Die Aktualität der altgriechischen Kultur beruht jedoch nicht auf einer anzweifelbaren Hochwertigkeit, sondern auf ihrer Eignung für die Anforderungen des Kapitalismus'. Viele Kulturen waren im übrigen - was z. B. Architektur oder Reichtum betrifft - höher entwickelt als die altgriechische, z. B. die altägyptische oder -mesopotamische. Was die altgriechische Kultur auszeichnete, war, daß es sich um eine Kultur des Subjekts handelte. Das altgriechische Denken betrachtete den Menschen als das Subjekt der Geschichte. Das war eine Waffe für die Aufklärung. Nicht Gott, nicht eine über den Menschen stehende Kraft, sondern der Mensch selbst regelt sein Leben. Das ist die Hauptaussage der altgriechischen Kultur, die vom aufstrebenden Kapitalismus und seinen Vordenkern aufgegriffen wurde. Deswegen gehört die altgriechische Philosophie zur europäischen bzw. westlichen Zivilisation und nicht nur den Griechen.

 

 

Fanarioten und Hellenisierung

 

Die Herausbildung des griechischen Nationalstaates, so haben sie verschiedentlich gezeigt, führe beispielhaft vor, daß der Nationalstaat ganz allgemein - also auch in anderen Ländern - Bedingung wie auch Produkt der sozioökonomischen Entwicklung zum Kapitalismus gewesen sei. Können Sie das mal zusammenfassend darlegen?

 

Während der Auflösung des Osmanischen Reiches, genauer: der Auflösung der asiatischen Produktionsweise im Osmanischen Reich haben sich zwei Entwicklungstendenzen herauskristallisiert: eine Tendenz in Richtung Feudalherrschaft - im 17. und 18. Jahrhundert entstanden große Feudalgüter im mittleren und nördlichen Balkan, und eine Tendenz in Richtung Kapitalismus, die sich in den am Mittelmeer oder auf den ägäischen Inseln gelegenen Städten herausbildete. Dort kam es rasch zu den historisch ersten Formen von Kapital, d. h. Handels- und Reederkapital, daneben auch bestimmte Manufakturen. In diesen, im übrigen orthodoxen Gemeinden entfaltete sich ein griechisches Nationalbewußtsein, und zwar unabhängig davon, ob die Einwohner Griechisch sprachen (was sicherlich in den meisten dieser Städte der Fall war) oder nicht, stattdessen z. B. Albanisch oder eine slawische Sprache.

 

Das zeigt übrigens, daß die sprachliche Kontinuität - also hier zwischen Alt- und Neugriechisch - bei der Entstehung der Nationalstaaten nur eine begrenzte Rolle gespielt hat.

 

Genau. Der Grund für die Entwicklung eines griechischen Nationalbewußtseins lag in der Existenz einer teilweise orthodoxen und griechischsprachigen Verwaltung im Osmanischen Reich. Die türkischen Eroberer des Byzantinisches Reiches hatten nämlich dessen Offiziere, die sog. Fanarioten übernommen und hohe Verwaltungsstellen mit ihnen besetzt. Deshalb war z. B. der sog. Dragomane der Flotte, eine dem heutigen Außenminister entsprechende Stellung, ein griechischsprachiger Fanariote. Soweit sie es noch nicht beherrschten, mußten die orthodoxen Beamten Griechisch lernen. Denn Griechisch war im damaligen Osmanischen Reich die einzige Schriftsprache, und die Verwaltung des Reiches war auf schriftlicher Grundlage leichter zu bewerkstelligen. Daraus ergab sich eine Hellenisierung der neu entstehenden kapitalistischen Klasse, auch wenn sie ursprünglich nicht griechisch sprach. So verhielt es sich mit der walachischen [= westrumänischen] und der albanischen Bourgeoisie, z. B. auf der Insel Idra und im Epirus, und natürlich auch mit der griechischstämmigen Bourgeoisie. Interessant ist, daß dieser soziale Wandel in Richtung Kapitalismus gleichzeitig ein Prozeß der Nationsbildung war.

 

Worin liegt der Grund für diese Gleichzeitigkeit, für die Entstehung eines griechischen Nationalstaates? Brauchte das sich entwickelnde Kapital einen größeren Markt und zugleich einen Staatsapparat für dessen Organisation und Verwaltung?

 

Genau, und der zweite Grund dürfte entscheidender gewesen sein. Politische Herrschaft ist ein Strukturelement kapitalistischer Gesellschaft. Das Kapital kann nicht nur als ökonomische Macht existieren, sondern bedarf einer von ihr getrennten politischen Gewalt. Das gilt insbesondere, wenn es sich in einem feindlichen Raum entwickelt wie im Osmanischen Reich, das kein kapitalistisches System war und der kapitalistischen Entwicklung allerlei Hindernisse in den Weg stellte.

 

 

Sozialer Fortschritt durch Nationalismus?

 

Ich habe während meiner Diskussionen in Griechenland mehrmals das Argument gehört, daß der defensive Nationalismus hier eine gute Sache sei, weil auf diese Weise die Griechen endlich wieder ein bißchen Selbstbewußtsein zurückgewinnen und damit von ihrer ständigen Ergebenheit und Selbstrechtfertigung abrücken würden. Dieses neue Selbstbewußtsein könne dann auch die Grundlage fortschrittlicher Bewegungen innerhalb Griechenlands sein. Was sagen Sie zu dieser Argumentation?

 

Ich halte sie für falsch. Der defensive Nationalismus ist in meinen Augen die Vorstufe des offensiven Nationalismus'. Es bedarf nur eines Umkippens der wirtschaftlichen Konjunktur oder der sozialen und politischen Lage, um vom defensiven zum offensiven Nationalismus zu rutschen. Deshalb betrachte ich jeden Nationalismus als eine gefährliche und kaum progressive Ideologie. Ich glaube, daß eine fortschrittliche Entwicklung Griechenlands auf keine andere Weise stattfinden kann als auf der Grundlage eben dieses Ziels, also sozialer Veränderung, sprich direkt und nicht auf dem zweifelhaften nationalistischen Umweg. Es gibt ja auch eine Tradition in Griechenland wie in anderen europäischen Ländern, die nicht auf Nationalismus, sondern auf interessengeleiteter Solidarität mit dem Ziel gesellschaftlicher Umwälzung beruht.

 

Und wenn Sie an Länder der Dritten Welt und deren nationale Befreiungsbewegungen denken, können Sie sich Situationen vorstellen, in denen Nationalismus notwendig und gerechtfertigt sein kann, als Beitrag, als Voraussetzung oder als Mittel sozialer Veränderung?

 

Ja, und nicht nur in der Dritten Welt, sondern auch in der Ersten, z. B. im Falle eines militärisch besetzten Landes ...

 

... wie etwa Frankreich ab 1940 ...

 

Eben. Entscheidend ist aber immer, welche Ideologie im Rahmen des Nationalismus die Hegemonie hat. Wenn die Perspektive der arbeitenden Klassen, orientiert auf gesellschaftliche Veränderung und soziale Gerechtigkeit, die Hegemonie innehat, dann läßt sich der Nationalismus "benutzen", um die Mehrheit der Bevölkerung oder zumindest der arbeitenden Bevölkerung für diese Perspektive zu mobilisieren. Diese Situation mag erreicht worden sein in der jugoslawischen oder der chinesischen Revolution nach dem II. Weltkrieg, aber auch im vietnamesischen Befreiungskrieg gegen Frankreich und die USA. Doch in den heutigen europäischen Ländern ist sie nicht gegeben.

 

Herzlichen Dank für das Gespräch!